Geschichte & Geschichten

Piz Salecina heisst ein Berg unweit der italienisch-schweizerischen Grenze, beim Malojapass, dem Übergang vom Engadin ins tiefe Bergellertal. An seinem Fuss steht ein 300 Jahre altes, ehrwürdiges Bauerngehöft mit dicken Mauern und einem festen Steindach. Seit 1972 heisst diese etwas abseits von Maloja gelegene Liegenschaft «Salecina». 

«Salecina» wurde im Laufe der Jahre zu einem internationalen Treffpunkt von engagierten und politisch aktiven Menschen. Und ist bis heute «ein Haus für uns (Linke)» geblieben, ein Haus für alle jene Menschen, die die Ziele einer sozialeren, gerechteren und ökologischeren Welt weiterverfolgen.

Gründerjahre

«Errichtung eines Erholungsheimes für Wenigbemittelte und Unterstützungsbedürftige» steht in der Gründungsurkunde der Stiftung Salecina. Sie trägt das Datum des 12. Juli 1971 – jenes Jahres also, in dem die Liegenschaft in Orden bei Maloja erworben wurde. Entgegen dem offiziell beurkundeten Stiftungszweck schwebte dem Stifterpaar Theo und Amalie Pinkus allerdings nicht «nur» ein soziales, sondern vor allem auch ein politisches Zentrum in Salecina vor.

Den Gedanken, in den Bergen eine billige, von Organisationen und Institutionen unabhängige Ferienunterkunft und Tagungsmöglichkeit zu errichten, um sich zu erholen, Erfahrungen auszutauschen, andere, gleichgesinnte Leute zu treffen, diese Idee hatten Theo und Amalie schon lange. Von einem Freund, der anonym bleiben wollte, erhielten sie 1970 die Zusage, dass sie, falls sie ein geeignetes Ferienhaus finden würden, eine Spende von zweihunderttausend Franken erhielten. Diese Spende war an keine Bedingung geknüpft. Er hatte einfach Vertrauen zu ihnen, kannte sie als Linke und «Naturfreunde», und er wusste auch, dass die neue Generation der 1968 politisierten Linken ein eher zwiespältiges Verhältnis zu den Institutionen der traditionellen Arbeiterbewegung hatte.

Nach längerer Suche fanden Theo und Amalie in «Orden dent» das richtige Objekt – das nur aus zwei warmen Zimmern bestand, der Küche und einer Holzstube – und verhandelten mit den Eigentümern, der Familie Baldini. Und es kam zu diesem interessanten Vertrag, in dem es hiess, wir dürften in keinem Fall einen Kiosk betreiben, kein Nachtlokal, kein Kino und auch keine Kirche. Baldini betonte ausdrücklich, dass wir natürlich schon ab und zu einen Film über Vietnam zeigen dürften.

Erinnerungen von Theo und Amalie Pinkus an die Anfänge von Salecina aus der «Jubiläums-Dokumentation 25-Jahre Bildungs- und Ferienzentrum Salecina, Maloja 1997» hier als PDF zum Downloaden

Die Schnüffelpolizei

Im Januar 1972 eröffnete die schweizerische Schnüffelpolizei in Bern die Fiche (so das französische Wort für Karteikarte, «Fische» gesprochen) von Salecina. Bis 1989 wurden 13 Karten beidseitig mit knappen Zusammenfassungen der dazugehörenden Rapporte beschrieben. Ohne dass wir es wussten, schrieb die Bundespolizei (Bupo) eine Parallelgeschichte über das linke Zentrum in den Bergen, in das sie munter zeitgenössische Vorurteile projizierte.

Salecina hatte allerdings stets mit der Möglichkeit einer Überwachung gerechnet. Immerhin gab es auch ein paar handfeste Indizien. Einige Berliner Lehrer wurden von ihrer Schulbehörde zur Rede gestellt, weil sie in Salecina waren. Bündner Seminaristinnen erhielten nach einer Salecina-Woche Besuch von einem Polizisten, der sie vor Liebesbeziehungen mit deutschen Terroristen warnte. Und während der Schleyer-Entführung waren gar zwei deutsche Staatsschützer in Salecina abgestiegen. Doch die systematische Bespitzelung blieb unbeweisbar. Erst 1991 erhielt Salecina die Kopien der Fichen, 1994 dann die Kopien der dazugehörenden Rapporte und Dossiers – ein drei Kilogramm schweres Paket – mit Zensurbalken versehen.

Besonders suspekt erschien den Ficheuren die «Florawoche», die im Gegensatz zu vielen unbeachteten Wanderwochen regelmässig erfasst wurde. Ein gut geschulter Staatsschützer muss hinter der raffiniert einfachen Bezeichnung ein besonders klandestines Treffen erkannt haben…

Ganzer Beitrag aus der «Jubiläums-Dokumentation 25-Jahre Bildungs- und Ferienzentrum Salecina, Maloja 1997» hier als PDF zum Downloaden

Umbau im Sommer 1972

Amalie Pinkus: «Die Stimmung war wirklich sehr besonders. Als der Kamin fertig gemauert war, wurde zum Aufrichtfest die rote Fahne aufgezogen. Das sah ein Spaziergänger, der freisinnige Nationalrat und spätere Bundesrat Rudolf Friedrich. Er war so erzürnt, dass er im freisinnigen Pressedienst am 22. Januar 1974 eine Kolumne unter dem Titel «Rote Fahnen im Malojawind» schrieb, die in zahlreichen Schweizer Zeitungen abgedruckt wurde. Dieser Fahnenstreit war der Gipfel unserer Anfangsschwierigkeiten. Einzelne Bürger der Region liefen Sturm gegen Salecina. An einer Gemeindeversammlung wurde sogar Protest gegen Salecina eingelegt. Wir würden anfangen, die Strassen umzubenennen, hiess es. Einige Bauleute hatten aus Spass die Wanderwege um unser Haus mit holzgeschnitzten Schildern versehen, ‹Strasse der Revolution›, ‹Karl-Marx-Strasse› und ‹Ho-chi-Minh-Weg›. . . Wegen der Fahne auf dem Kamin wurde die Polizei in Silvaplana gerufen. Doch der Polizist wollte nicht eingreifen, die Fahne sei schliesslich auf Privateigentum, da könne jeder hinhängen was er wolle.»

Theo Pinkus‘ Credo

«Ich war immer der Meinung, dass wir in Salecina Ferien und Bildung in Einklang bringen sollten. Die Gegend lädt ja dazu ein, Spaziergänge zu unternehmen, auf Berge zu steigen, das Bergell zu durchwandern. Warum dies nicht mit Gesprächen und Diskussionen verbinden? Dazu kommt die einzigartige Lage von Salecina, am Übergang zwischen deutscher, rätoromanischer und italienischer Kultur, nahe der italienischschweizerischen Grenze, in der Nähe der Innquelle, die zugleich Wasserscheide zwischen Nordsee, Adria und Schwarzem Meer ist. Salecina soll ein internationales Zentrum sein, das Grenzen überwindet und sprengt, nicht nur Staatsgrenzen. ‹Grenzüberschreitung› – das ist für Salecina eine Art Programm. Salecina soll über Parteigrenzen hinaus Leute motivieren, politisch tätig zu sein. Probleme und Lösungsmöglichkeiten sollten auch mit Genossinnen und Genossen aus anderen Ländern, mit anderen Erfahrungen, diskutiert werden.»

Interview mit Theo Pinkus und Anna Ratti (langjährige Hüttenwärtin) erschienen in der
WoZ am 15. Juni 1984, publiziert auch in der «Jubiläums-Dokumentation 25-Jahre Bildungs- und Ferienzentrum Salecina, Maloja 1997» hier als PDF zum Downloaden

Theo Pinkus: Schweizer Publizist, Verleger und Buchhändler. Mehr…

Culur

Im Sommer 1995 tagte der Salecinarat ausnahmsweise im Kanton Uri, hoch oben in Eggberge, und diskutierte, wie das 25jährige Salecina-Jubiläum gefeiert werden könnte. Heini Conrad brachte die Idee von der Kunst auf der Mauer ins Spiel: Eine künstlerische Gestaltung der Hochwasser-Schutzmauer, die 1972 offiziell eingeweiht wurde und seither in unserem Blickfeld steht. Im gleichen Jahr nahm Salecina den Betrieb auf.

Im September 1996 entschied sich dann der Salecinarat für das Projekt «Culur» von Gottfried Honegger. Der international renommierte Künstler und überzeugte Sozialist, der seine ersten Lebensjahre in Sent im Unterengadin verbrachte, verzichtete aus Sympathie zum linken Projekt Salecina auf jedes Honorar. Mehr noch: «Culur» wurde weitgehend mit dem Verkauf einer Grafik finanziert, die Honegger geschaffen hat. Das Kunstwerk – es ist die erste öffentliche Installation des Künstlers in Graubünden – wurde am 9. August 1997 offiziell eingeweiht und der Öffentlichkeit übergeben.

Chronologie

1689: Bau des Bauernhauses Orden dent

1750: Bau des Stalles (dem heutigen Schlafhaus)

1884: Mit dem Bau des Luxushotels Palace wird Maloja zur Tourismus-Destination. Die NZZ kommentierte: «Es soll hier der Reunionsplatz der hocharistokratischen Welt werden, mit dem Zweck, die unteren Klassen von vorneherein abzuschrecken.»

12.7.1971: Theo und Amalie Pinkus errichten die Stiftung Salecina, die im gleichen Jahr die Liegenschaft Orden dent erwirbt (der frühere Bauer konnte den Hof nach einem Unfall nicht mehr bewirtschaften). «Der Zweck der Stiftung besteht in der Errichtung eines Erholungsheimes für Wenigbemittelte und Unterstützungsbedürftige.» Der Stiftungsname stammt vom nahegelegenen Piz Salecina.

24.1.1972: Die Schweizer Schnüffelpolizei eröffnet die umfangreiche Salecina-Fiche.

1972/73: Freiwillige bauen das einfache Bauernhaus in ein Bildungsund Ferienzentrum mit 56 Schlafplätzen um.

19.9.1976: Max Frisch erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und schenkt die Summe Salecina, wo er im Sommer an einem Seminar mit Herbert Marcuse diskutiert hatte.

 

1978: Neudefinition des Stiftungszwecks: «Errichtung einer Erholungs- und Bildungsstätte für Wenigbemittelte und Unterstützungsbedürftige.»

Januar 1979: Erstmals erscheint das Mitteilungsblatt «Salecina», das seither vierteljährlich in italienischer und deutscher Sprache über Salecina informiert.

1982-84: Freiwillige bauen den bisher leerstehenden Stall zum Schlafhaus um und unterziehen die bereits genutzten Häuser einer Renovation.

1986: Die Zahl der Hüwa-Stellen (Hüttenwarte) wird auf drei erhöht.

5.5.1991: Tod des Stifters Theo Pinkus

1992: Salecina stellt auf Holzheizung um – eine Investition, die den seinerzeitigen Kaufpreis übertrifft.

1994: Der Salecinarat beschliesst bzw. bekräftigt das bis heute geltende Partizipationsmodell: Alle in den Kommissionen aktiv und regelmässig Mitarbeitenden sind stimmberechtigte Ratsmitglieder.

9.2.1996: Tod von Amalie Pinkus-De Sassi

Juni 1996: Auftakt des 25jährigen Jubiläums mit einem Zukunfts-Wochenende

Sept. 1996: Diskussion mit BündnerInnen über die Rolle von Salecina in der Region und im Kanton

9.8.1997: Einweihung der Installation «Culur» des Künstlers Gottfried Honegger, geschaffen zum doppelten 25jährigen Jubiläum von Salecina sowie der Hochwasserschutzmauer.

16.8.1997: Abschluss des Salecina-Jubiläumsjahres mit einem rauschenden Fest.

2001: Ein ganzes Jahr lang diskutieren Salecina-Rat und engagierte Gäste Renovations-Vorschläge und –Ideen. Im Oktober ist es dann so weit, das Projekt wird von Markus Brunner, Architekt und Salecina-Ratsmitglied, vorgestellt.

2002: Unter der Leitung von Rodolfo Fasciati, Architekt aus Vicosoprano, wird von April bis Juni das Schlafhaus umgebaut. Die legendären Matratzenlager werden durch komfortable Betten ersetzt.

In den folgenden Jahren, von 2002 bis 2010, werden mehrere Bauten von Theo und seinem Gefolge von Freiwilligen verändert.

Die Putzwochen werden immer noch von Gästen, mit Mithilfe und Anleitung des Salecina-Teams durchgeführt.  Die komplexeren Arbeiten werden an Handwerksbetriebe aus der Region anvertraut.

2003: Unter der fachkundigen Leitung von Diego Giovanoli wird die Sanierung der Westfassade des Wohnhauses und der Südfassade des Schlafhauses durchgeführt.

2005: Die Internetseite, ohne die die Idee von Salecina heutzutage nicht mehr verbreitet werden kann,  wird on-line gestellt. Im selben Jahr werden, dank den Spenden der Amici und im Sinne des Stiftungszweckes, Spezialpreise für selbstorganisierte Politseminare und für Alleinerziehende eingeführt, die sich sonst den Aufenthalt nicht leisten könnten. In 2005 entwickeln sich folgende Seminare zu Highlights: „Die Südgrenze des Graubünden 1943/1945“ in Erinnerung  an Ettore Castiglioni und an die Ereignisse dieser Jahre, und das Seminar „Warming up“ an dem die Problematik der Lesbian Gay Bewegung von VertreterInnen von sechs Ländern diskutiert werden.

2008:  An den Ratssitzungen, im Ausschuss, in den Ratsprotokollen, in offiziellen und nichtofiziellen  Dokumenten und in den Seminaren wird die Zweisprachigkeit, deutsch und italienisch, gefestigt. Eine neue, starke Beachtung wird der italienischen Sprache gewidmet, die schon seit den Anfangszeiten von Salecina präsent war.

Im selben Jahr wird die Sanierung der Heizung entschieden: die Stückholzheizung, für die unzählig viele Gäste in Holzaktionen Tonnen von Holz transportiert haben, wird durch eine automatische Holzschnitzelheizung  ersetzt. Diese ist nicht nur umweltfreundlicher, sondern sie verbraucht für die gleiche Leistung auch weniger Brennstoff.

So wurden die Ziele erreicht die Brennstoffmenge zu reduzieren, die Umwelt besser zu respektieren und das Holz aus der Region zu beziehen. Mit aus diesen Gründen wurde Salecina von Ibex-Fairstay für seine nachhaltige Führung zertifiziert und ausgezeichnet.

In diesem Jahr widmet sich der Salecina-Rat der Zukunft. Vom 25. -27. April findet ein Workshop statt der die Wünsche und Ideen der Gäste und des Rates in die Zukunft projiziert: regionales Kulturzentrum, aber auch Renovation mit Lösungen die den Komfort in den Gemeinschaftsräumen erhöhen, um sich mehr zu Hause fühlen.

2009 e 2010 : Die Sanierungen schreiten voran, Eingang, Beleuchtung, Treppen. Aber auch zwei grossartige Feste um an die 100 Jahre von der Geburt von Theo und Amalie zu erinnern. Am 20. August 2009 feiert Salecina mit FreundInnen, Gästen, usw. die der Verwirklichung dieses Traums. Musik, ein Theo gewidmeter Film mit einer Diskussion über seine dominierende Persönlichkeit, Feuerwerk und ein Essen mit seinem Lieblings-Menü füllen den Tag.

2010: Die Erinnerung an Amalie vom Juli 2010 beschreitet andere Wege. Ihre inhaltsreiche, grosszügige und sicher scheue Persönlichkeit, im Gleichgewicht zwischen mehreren Kulturen, hellhörig für Frauenproblematiken, werden von Freundinnen die sie gekannt hatten auf einem biografischen Spaziergang zum Cavlocc erzählt. Dort beleben Musik und „feine Sachen“ den utopistischen und blauäugigen Geist der in den ersten Filmen von Amalie und ihren Mann spürbar sind.

2012: Im Juni werden zum 40jährigen Jubiläum von Salecina nebst Essen, Gesang und Musik mehrere Workshops durchgeführt. Themen sind: solidarisches Wirtschaften, Kunsttherapie, Chor, Geografiespaziergang, Feminismus und Frauenkollektive in 1972 und ein Kinderworkshop. Eine Podiumsdiskussion widmet sich der Frage der Zukunft des Modells von Salecina. Die durchgeführten  Workshops entwickeln sich zu Seminaren die im folgenden Jahr angeboten werden. Über 100 Gäste und FreundInnen aus der Region sind anwesend. Es wurde eine Broschüre mit Geschichten, Gedichten und Zeichnungen, die von Gästen eingesandt wurden, zusammengestellt. hier als PDF zum Downloaden

Im selben Jahr muss der Zweck der Stiftung Salecina neu formuliert werden. Dieser heisst nun: Die Stiftung bezweckt den Betrieb eines selbstverwalteten Bildungs- und Ferienzentrums in Orden dent, Maloja. Das Zentrum steht fortschrittlichen Bewegungen nahe und bietet preiswerten Aufenthalt.

Bebilderte Chronik aus der «Jubiläums-Dokumentation 25-Jahre Bildungs- und Ferienzentrum Salecina, Maloja 1997» hier als PDF zum Downloaden 

Salecina – Ferien- und Bildungszentrum / Centro di vacanze e formazione info@salecina.ch